News & Stories vom 22.05.1995

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

Jürgen Busche über den Satz : "Geschichte wird immer für die Zeitgenossen erzählt"
Herodot, der Ahnvater der Geschichtsschreibung, erzählt noch wie ein Märchenerzähler; Thukydides, Libius, Sallust, Tacitus berichten in Form einer Mischung von Tatsachen und Erfindung. Die moderne, kritische Geschichtsschreibung hat ihre Wurzeln im 18. Jahrhundert und ihre Blüte im 19. Jahrhundert. Der große Droysen, Niebuhr und Mommsen entwickeln eine Erzähltradition und öffnen neue Bereiche für das geschichtliche Bewusstsein. Jürgen Busche, Leiter des Ressorts Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung, charakterisiert die verschiedenen Stile und Tugenden der Geschichtserzählung und stellt sie jeweils in deren historischen Zusammenhang. Es gibt keine Geschichtsschreibung, sagt er, die nicht für die Zeitgenossen oder aus dem Geiste der Zeit geschrieben wäre. Die lebendige Erfahrung verträgt keine Reduktion, sie braucht aber, weil man anders nicht erzählen kann, ihre Grammatik. Man darf deshalb weder die Gegenwart von der Geschichte oder Zukunft tyrannisieren lassen, noch kann sich die Gegenwart gegen die übrigen Zeiten verabsolutieren. Die Geschichtsschreibung ist ein Maß dafür, wie eine Gesellschaft differenziert.